Landesarbeitsgericht Hessen zur verhaltensbedingten Kündigung: Entbehrlichkeit einer vorherigen Abmahnung

Für den gesetzlichen Kündigungsschutz, der allen Arbeitnehmer:innen nach sechs Monaten des Beschäftigungsverhältnisses in Betrieben, die mehr als zehn Vollzeitmitarbeiter:innen beschäftigen, zusteht, ist die Begrenzung auf die gesetzlich zugelassenen Kündigungsgründe von zentraler Bedeutung.

 

Die arbeitgeberseitige Kündigung eines Arbeitsverhältnisses kann nur bei berechtigten betriebsbedingten Gründen, verhaltensbedingten Gründen oder personenbedingten Gründen ausgesprochen werden. Bei verhaltensbedingten Kündigungsgründen, die das bewusst und steuerbare Verhalten von Beschäftigten betreffen, ist grundsätzlich eine vorherige Abmahnung erforderlich. Eine Kündigung soll demnach nicht bei jeglichem Fehlverhalten sofort möglich sein. Beschäftigte sollen bei arbeitsrechtlichem Fehlverhalten grundsätzlich zuvor eine Warnung erhalten.

 

Mit dieser wichtigen Voraussetzung einer verhaltensbedingen Kündigung hat sich in einer aktuellen Entscheidung das Landesarbeitsgericht Hessen (Urteil vom 04.11.2022 - 10 Sa 778/22) beschäftigt.

 

Wann ist eine verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung auch ohne vorherige Abmahnung zulässig?

 

Nach ständiger Rechtsprechung kann bei einem arbeitsrechtlichen Fehlverhalten nur dann sofort eine verhaltensbedingte Kündigung ausgesprochen werden, wenn das Fehlverhalten besonders schwerwiegend ist und eine vorherige Abmahnung nicht zumutbar ist oder von einer Abmahnung keine Besserung des Verhaltens der betroffenen Arbeitnehmer:innen zu erwarten ist.

 

Verhaltensbedingte Kündigung auch bei Diebstahl geringwertiger Sachen.

 

Das Landesarbeitsgericht Hessen führt hierzu in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung aus, dass Eigentums- und Vermögensdelikte (Diebstahl, Unterschlagung) zulasten von Arbeitgeber:innen regelmäßig einen wichtigen Grund für eine außerordentliche, fristlose Kündigung, ohne vorherige Abmahnung, darstellen. In solchen Eigentums- und Vermögensdelikten liegt ein gravierender Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die wirtschaftlichen Interessen von Arbeitgeber:innen. Dies gilt nach den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts Hessen auch bei Diebstahl oder Unterschlagung von Gegenständen mit nur geringem Wert. Nach der vom Landesarbeitsgericht Hessen zitierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist auch die Entwendung einer geringwertigen Sache grundsätzlich geeignet, eine fristlose, außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung zu rechtfertigen. Dies gilt ausdrücklich auch bei dem Verzehr von Lebensmitteln, die im Eigentum von Arbeitgeber:innen stehen.

 

In jedem Fall ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich.

 

In dem entschiedenen Fall hat das Landesarbeitsgericht Hessen die Kündigung eines Beschäftigten aber dennoch für rechtswidrig erklärt, der bei einer Firmenfeier übriggebliebene Lebensmittel mit nach Hause genommen hatte.

 

Das Landesarbeitsgericht verweist hierbei drauf, dass trotz Vorliegens eines Kündigungsgrunds stets eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall anzustellen ist. Es muss also unter Betrachtung der Interessen von Arbeitgeberseite und der konkreten Situation der betroffenen Arbeitnehmer:innen abgewogen werden, ob eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtmäßig ist. In dem konkret entschiedenen Fall hat das Landesarbeitsgericht geurteilt, dass eine sofortige Kündigung nicht zulässig war, sondern das mildere Mittel einer vorherigen Abmahnung hätte genutzt werden müssen. Das Landesarbeitsgericht leitet dies daraus her, dass keine klaren Anweisungen und Hinweise des Arbeitgebers vorhanden waren, wie mit den übriggebliebenen Lebensmitteln der Betriebsfeier umgegangen werden sollte. Solche Weisungen machen die Entwendung des Eigentums des Arbeitgebers zwar nicht rechtmäßig. Ein so weitgehender Eingriff, wie die Kündigung des Arbeitsverhältnisses, ist jedoch nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts ebenfalls nicht berechtigt. In diesem Fall hätte eine vorherige Abmahnung des Beschäftigten mit einem klaren Hinweis zur Behandlung der übriggebliebenen Lebensmittel erfolgen müssen.

 

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts zeigt auf, dass auch bei an sich eindeutigen Verfehlungen im Arbeitsverhältnis ein so schwerwiegender Eingriff, wie die Kündigung, immer im Einzelfall unter Vornahme eine Würdigung der Gesamtumstände abgewogen werden muss. Das Landesarbeitsgericht betont insofern, das im Kündigungsschutzrecht angelegte Recht von Beschäftigten vor Ausspruch einer Kündigung gewarnt zu werden.

 

Erhalten Beschäftigte demnach eine verhaltensbedingte Kündigung ist unbedingt anzuraten, diese gründlich anwaltlich prüfen zu lassen, ob eine Verteidigungsmöglichkeit besteht.

06.02.2023

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