Neues vom LAG Niedersachsen zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Erkranken Arbeitnehmer:innen unverschuldet im Arbeitsverhältnis, so gewährt ihnen das Entgeltfortzahlungsgesetz einen Anspruch auf Lohnfortzahlung für einen Zeitraum von 6 Wochen pro Erkrankung.

Das Gesetz verlangt von ihnen hierbei grundsätzlich nur die unverzügliche Meldung der Erkrankung und bei einer bestimmten Dauer die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Nach ständiger Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit hat diese ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen hohen Beweiswert und belegt somit das Vorhandensein einer Arbeitsunfähigkeit.

Wann ist der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert?

In der Rechtsprechung sind jedoch auch Fälle anerkannt, bei denen der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingeschränkt ist und das Vorliegen einer unverschuldeten Erkrankung mit weiteren konkreten Angaben seitens des Arbeitnehmers/ der Arbeitnehmerin nachgewiesen werden muss.

Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Zeiträume der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auffällig und ungewöhnlich sind.

So hatte das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit entschieden, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die nach arbeitgeberseitiger Kündigung exakt den Zeitraum des noch verbleibenden Arbeitsverhältnisses in der Kündigungsfrist abdeckt, derart auffällig ist, dass eine weitere Erläuterungspflicht seitens des Arbeitnehmers/ der Arbeitnehmerin besteht.

Mit einer weiteren Konstellation des erschütterten Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat sich das Landesarbeitsgericht Niedersachsen in einer aktuellen Entscheidung vom 08.03.2023 zum Az. 8 Sa 859/22 auseinandergesetzt.

Folgender Sachverhalt liegt der Entscheidung zugrunde: Der Arbeitnehmer einer Leiharbeitsfirma war mehrere Wochen nicht eingesetzt worden und meldete sich anschließend mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung krank. Am nächsten Tag erhielt er die Kündigung zum Monatsende. Der Arbeitnehmer legte daraufhin zwei weitere ärztliche Bescheinigungen vor, die ihn genau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses als krankgeschrieben auswiesen. Der Arbeitgeber bezweifelte das Vorliegen einer Erkrankung und verweigerte die Lohnfortzahlung.

Das Landesarbeitsgericht entschied zugunsten des Arbeitnehmers.

Erschütterter Beweiswert der AU-Bescheinigung bei sofortiger Krankmeldung nach Erhalt der Kündigung

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat ausgeführt, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann, wenn ein betroffener Arbeitnehmer sich im Fall des Erhalts einer arbeitgeberseitigen Kündigung unmittelbar danach, scheinbar als Reaktion auf den Erhalt der Kündigung, krankmeldet und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, die genau den Zeitraum des verbleibenden Arbeitsverhältnisses innerhalb der Kündigungsfrist ausmacht.

Zeitliche Abfolge zwischen AU-Bescheinigung und Kündigung entscheidend

Allein der Umstand, dass ein Arbeitnehmer/ eine Arbeitnehmerin sich nach einer Kündigung exakt bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses krankmeldet, nimmt einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aber noch nicht den Beweiswert.

Auf die zeitliche Abfolge komme es an, so das Landesarbeitsgericht Niedersachsen.

Nicht erschüttert sei der Beweiswert, wenn - wie in dem zu entscheidenden Fall - zuerst die Krankmeldung und hiernach der Ausspruch der Kündigung erfolgt, da hierbei zwischen Kündigung und Krankmeldung kein Kausalzusammenhang besteht.

Die Krankmeldung folge in solchen Fällen nicht auf die Kündigung und könne daher auch nicht als vorgetäuschte Erkrankung wegen einer ausgesprochenen Kündigung bewertet werden.

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen betont auch, dass allein eine bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses andauernde Arbeitsunfähigkeit auch bei Genesung und Arbeitsaufnahme beim neuen Arbeitgeber am unmittelbar darauffolgenden Tag des Endes des Arbeitsverhältnisses, aus sich heraus keine Einschränkung der Beweislast begründet.

Vorsicht bei AU-Bescheinigung im Zusammenhang mit Kündigungen

Die auf Basis der bisherigen Rechtsprechung ergangene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen macht deutlich, dass bei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Zusammenhang mit Kündigungen, gerade wenn sie unmittelbar nach solchen erfolgen, große Vorsicht geboten ist.

In jedem Fall ist jedoch eine konkrete Abwägung des Einzelfalls zu treffen und es verbieten sich Verallgemeinerungen.

Betroffenen Arbeitnehmer:innen ist daher anzuraten, bei einem zu erwartenden Konflikt mit der Arbeitgeberseite, sich das Vorliegen einer Erkrankung in solchen Fällen durch ergänzen der ärztlichen Atteste nachweisen zu lassen.

 
23.06.2023

Hentschel Rechtsanwälte – Weil Ihre Arbeit Teil Ihres Lebens ist! 




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